Die recherchebasierten und kollaborativen Arbeiten der transmedial arbeitenden Videokünstlerin Cana Bilir-Meier beschäftigen sich oft mit gesellschaftlichen Fragen der postmigrantischen Gesellschaft und der Sichtbarmachung intersektionaler Perspektiven. Dokumentarische Fundstücke aus dem Familienarchiv der Künstlerin werden mit inszenierten Szenen verknüpft und erzeugen Verbindungslinien zwischen verschiedenen Fragmenten postmigrantischer Erfahrung. Dabei werden nicht nur Kontinuitäten rassistischer Gewalt deutlich, sondern vor allem die Kraft und das Empowerment eines widerständigen Erinnerns. Die Matinée umfasst eine Werkschau, in der eine Auswahl von Bilir-Meiers Filmen gezeigt wird, und einen anschließenden Artist Talk, in dem Bilir-Meier über ihre künstlerische Praxis berichtet.
Der Kurzfilm »Semra Ertan« (2013) ist Bilir-Meiers Tante, der Lyrikerin, Arbeiterin und politischen Aktivistin, Semra Ertan, gewidmet, die sich 1982 aus Protest gegen die rassistische Entmenschlichung von »Gastarbeitern« und sogenannten Arbeitsmigrant*innen in Deutschland das Leben nahm. »Semra Ertan« ist eine mimetisch tastende Annäherung an das Leben der Lyrikerin durch ihre Sprache, die uns die Zartheit aber auch die Wucht jedes einzelnen Ihrer Worte spüren lässt. Indem uns »Semra Ertan« so durch ihre Sprache als Lebendige präsent wird, wird uns ihr Verlust umso spürbarer. Der Film gewinnt dabei selbst eine lyrische Form und wird zu einem politisches Gedicht, ohne Glättung der Trauer.
»This Makes Me Want to Predict the Past« (2019) befasst sich mit dem Anschlag im Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ), wo am 22. Juli 2016 bei einem rassistischen und rechtsterroristischen Anschlag neun in der Mehrheit jugendliche Menschen getötet und viele weitere verletzt wurden. Auf den digitalisierten Super-8-Bildern, die der Film uns zeigt, sind auch zwei junge Menschen im OEZ zu sehen. Die zwei jungen Frauen bewegen sich gemeinsam, selbstbewusst und spielerisch durch das Einkaufszentrum und reklamieren den Ort für sich. Ihre lebendige Präsenz scheint uns zuzurufen: wir lassen uns unsere Räume nicht nehmen. Wir lassen uns nicht zu Opfern machen. Begleitet wird dies auf der Tonspur von einer Abfolge paradoxer Aussagen, die von unmöglichem Begehren handeln: die Vergangenheit vorhersagen; den Wecker aus dem Schlaf reißen; vergessen, woran man sich nicht erinnern kann. Fotos zeigen Szenen aus »Düşler Ülkesi« (Land der Träume), einer Theaterinszenierung an den Münchner Kammerspielen von 1982, an der Bilir-Meiers Mutter mitwirkte. Eine Bombendrohung verhinderte damals die Premiere. Auch die visuelle Beschaffenheit der der digitalisierten Filmbilder scheint uns in die 80er-Jahre zurückzuversetzen. Vergangenheit und Gegenwart schließen sich zusammen, werfen Fragen nach geschichtlicher Entwicklung und den Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung auf.
»Ein neues Wort« (2025) knüpft an einen Wettbewerb an, der 1970 in Westdeutschland ausgeschrieben wurde, um eine Alternative zum Wort »Gastarbeiter« zu finden. Ein Chor in München, überwiegend bestehend aus ehemaligen, aus der Türkei stämmigen Arbeitsmigrant*innen, lässt sich von den über 30.000 eingereichten Vorschlägen inspirieren und entwickelt daraus eine eigene musikalische Interpretation. Gemeinsam mit dem Chor erforscht die Künstlerin einen ermutigenden und zugleich dekonstruktiven Umgang mit sprachlichen Zuschreibungen – eine Wiederaneignung von Wörtern, die teils offen rassistisch, oft verletzend oder abwertend, zugleich aber auch absurd oder sinnentleert wirken.
Die Veranstaltung ist Teil von »Die Stimmen der Yoldaşlar – Vergangenheit vorhersagen«
Vergangenheit vorhersagen. Zu tun was unmöglich scheint. Das Gegebene herausfordern. Rassistische Gewalt und Ausbeutung nicht als alternativlos hinnehmen, sondern ihr etwas entgegensetzen und an der Idee einer davon befreiten Gesellschaft festhalten. – Für diese scheinbare Unmöglichkeit bedarf es auf gesellschaftlicher wie auf künstlerischer Ebene widerständiger Verfahren und Gegenstrategien. Die Filme, Fotos, Performances und kollaborativen Arbeiten der Künstlerin Cana Bilir-Meier entwickeln solche ästhetischen Gegenverfahren. Eine Kooperationspartnerin ist dabei die Sängerin und Komponistin Nihan Devecioğlu. In ihrer kollaborativen, transmedialen Arbeit setzen sich die beiden performativ mit Erfahrungen intersektionaler Marginalisierung und Ausbeutung in der postmigrantischen Gesellschaft ebenso wie mit solidarischen Praxen des Widerstands dagegen auseinander. Dabei sind Musik und Sprache sowie wie das Experimentieren mit verschiedenen Formen des kollaborativen Arbeitens formgebend und inhaltlich bestimmend. Am 12. November gestalten die beiden einen performativen Sound- und Videoabend im Ausstellungsraum Scape°. Die an der Hochschule für Gestaltung (HfG) stattfindende Matinée am 13. November ist den vorwiegend filmischen Arbeiten von Cana Bilir-Meier gewidmet und stellt ihre recherchebasierte und autobiographisch gefärbte Arbeitsweise in den Mittelpunkt.
Die Veranstaltung ist eine Kooperation des Forschungsprojekts »Die Kunst der Gegenuntersuchung« (Hochschule für Gestaltung Offenbach (HfG) / Institut für Sozialforschung Frankfurt (IfS)) mit dem kuratorisch-künstlerischen Projekt »Wetter.Mi« des Ausstellungsraums Scape° im Rahmen der aktuellen Veranstaltungsreihe »Demokratische Wohnzimmer«.
Um die Teilnehmer:innenzahl besser einschätzen zu können, bitten wir um Voranmeldung unter: wildt@hfg-offenbach.de - vielen Dank!
Mittwoch 12.11.2025, ab 18 Uhr –– Sound- und Videoperformance mit Cana Bilir-Meier und Nihan Devecioğlu, Scape°/Wetter.Mi, Offenbach am Main.
Donnerstag 13.11.2025, 11 - 13 Uhr –– Matinée und Artist Talk mit Cana Bilir-Meier, Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach, R.101