»Gewaltbezogene Lebensformen«

 

Ein Workshop am Institut für Sozialforschung Frankfurt, 08. und 09. Juni 2023

Das Dasein von Soldatinnen, Söldnern, Milizionären, Polizistinnen, Terroristinnen und überhaupt von Personen und Kollektiven, die die Ausübung von körperlicher Gewalt zu ihrem Beruf oder ihrer politischen und religiösen Berufung gemacht haben, lässt sich nicht auf Gewalttätigkeiten reduzieren. Darauf hat die sozial- und geschichtswissenschaftliche Forschung immer wieder hingewiesen. Neben ihren gewaltsamen Aktivitäten führen diese Personengruppen auch ein Sozialleben, gehen kulturellen Aktivitäten nach, haben Familie oder vertreiben sich anderweitig ihre freie Zeit. Zugleich aber bleibt dieses Leben selten unberührt von der Vorbereitung auf und der Partizipation an Formen organisierter Gewalt. Zum einen sind die betreffenden Männer und Frauen meist Mitglieder von Organisationen, Gruppen oder Subkulturen, die ihr Leben in Beschlag nehmen. Sie leben kaserniert oder im Untergrund, halten sich abgeschottet in Trainingscamps oder den Einsatzgebieten auf und werden Ausbildungen unterzogen, die auf eine persönliche und körperliche Anpassung zielen. Auch haben sie sich häufig Normen und Ideologien verschrieben, die nicht nur ihre Kampfmoral, sondern sie als ganze Person affizieren. Sie werden zu Kameradinnen und Kameraden, Brüdern oder Kampfgenossinnen und gehen damit Verpflichtungen ein, die bis ins Privatleben reichen. Zum anderen können sich Gewalterfahrungen entgrenzen und das Verhältnis gewalttätiger Personen und Kollektive zur restlichen Welt verändern. Entfremdung vom »normalen Leben« oder die Ausweitung von Gewalthandlungen auf zivile und lebensweltliche Kontexte können die Folge sein.

Auf diese Weise erstehen spezifische Lebensformen, die sich um die organisierte Gewalt formieren. Sie sollen das Thema des interdisziplinären Workshops »Gewaltbezogene Lebensformen« sein. Aus unterschiedlichen Perspektiven und entlang verschiedener empirischer Phänomene möchten wir diskutieren, wie sich Formen organisierter Gewalt und das Leben um sie herum zueinander verhalten. Dabei interessieren uns nicht nur, aber insbesondere drei Fragen:

  • Wie sehen gewaltbezogene Lebensformen im Kontext organisierter Gewalt aus und
    wie unterscheiden sie sich von anderen Lebensformen?
    – An welchen expliziten und impliziten Normen orientieren sich gewaltbezogene Lebensformen? Wie gestalten sich Sozialbeziehungen und Vergemeinschaftungsprozesse rund um Formen organisierter Gewalt? Welche individuellen und kollektiven Praktiken sind für sie typisch? Wie verhalten sich professionelle Kontexte organisierter Gewalt zum Privatleben der Akteure? Welche Formen nehmen soziale Institutionen (Familie, Arbeit, Freundschaft, etc.) im Kontext organisierter Gewalt an? Und, sind bei all dem vergeschlechtlichte Muster zu erkennen?
  • Wie tragen gewaltbezogene Lebensformen zur Bewältigung von Gewalt bei? – Führt die Eskalation von gewaltsamen Konflikten zur Veränderung von sozialen Kollektiven und deren Beziehungsgefügen? Wie werden Erfahrungen des Antuns und Erleidens von Gewalt sozial und individuell bearbeitet? Bilden sich zu diesem Zweck bestimmte soziale Beziehungsformen aus? Wie sehen institutionalisierte und professionelle Formen der Bearbeitung von Gewalterfahrungen aus? Wie werden Gewalterfahrungen sprachlich verarbeitet?
  • Wie tragen gewaltbezogenen Lebensformen zur Mobilisierung von Gewalt bei? – Steigern und kanalisieren bestimmte soziale Beziehungen, Lebensformen und kollektive Praktiken die Bereitschaft zur Gewaltausübung? Wie sehen diese aus und wie affizieren sie möglicherweise Gewaltpraktiken?

Entlang dieser Fragen möchten wir unterschiedliche empirische und konzeptuelle Arbeiten miteinander ins Gespräch bringen. Zu diesem Austausch sind alle herzlich eingeladen, die sich aus ethnologischer, sozialpsychologischer, geschichts- oder sozialwissenschaftlicher Perspektive mit der Einbettung von organisierter Gewalt in das soziale Leben von Gruppen beschäftigen. Gemeinsam möchten wir so ein besseres und kritisches Verständnis von Gewaltkulturen erarbeiten.

Der Workshop findet am 08. und 09. Juni 2023 am Institut für Sozialforschung Frankfurt im Rahmen des DFG-Projekts »Flucht aus der Freiheit. Der Weg junger Männer in den Dschihadismus« (geleitet von Prof. Ferdinand Sutterlüty) statt.

Wir freuen uns über interessante Beiträge aus den Sozial- und Geisteswissenschaften. Vorschläge können bis zum 24. März 2023 in Form eines Abstracts (max. 2000 Zeichen) bei Felix Roßmeißl (rossmeissl@em.uni-frankfurt.de) eingereicht werden.

 

Ort: Institut für Sozialforschung

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