Oskar Negt (1. August 1934 – 2. Februar 2024)
Ein Nachruf aus dem IfS
Oskar Negt ist am 2. Februar 2024 gestorben. Sein Tod lässt innehalten und in älteren und jüngeren Aufsätzen, Reden und Interviews blättern. Wer genau ist gegangen und wird nun fehlen?
Oskar Negt bewegte sich in einem Zwischenraum, einem Zwischen-den-Stühlen sowohl in Bezug auf die Kritische Theorie wie auch in Bezug auf politisch eingreifende Interventionen. Ein solches Dazwischen wird immer dann und für diejenigen relevant, die es mit der Selbstorganisation einer Gesellschaft von unten ernst meinen. Das tat Negt. Er verurteilte den sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 und dessen stalinistische Claqueure und griff gleichzeitig den notorischen westlichen Antikommunismus und dessen flexiblen Umgang mit den sogenannten demokratischen Werten an. Er bestimmte öffentliche Erfahrungsräume und kollektive Erlebniszeiten als »unverkäufliche Güter der Demokratie«, um zugleich und darüber hinaus gegen die parlamentarische Form auf Selbstverwaltung in allen Bereichen zu insistieren, das heißt im Gesamt der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion. Das Politische als eine vom tagtäglichen gesellschaftlichen Leben abgetrennte Sphäre müsse überwunden werden. Wer meine, Selbstverwaltung sei nicht realisierbar, habe die Hoffnung auf eine wirklich demokratische Gesellschaft aufgegeben. Negt konterte Fragen nach der »Gewalt« damaliger außerparlamentarischer Bewegungen mit einer Analyse des bedrohlichen Potenzials staatlich-verwalteter Gewalt. Und er analysierte Verbindungen zwischen militärischem und parlamentarischem Autoritarismus, zwischen Kaserne und Betrieb, Arbeiter und Soldat – um immer wieder gegen willfährigen Gehorsam und Unterordnung, Dienen und Mundhalten anzuschreiben. Hierbei ging es ihm stets auch um Kritik an hierarchischen Gewerkschaftsstrukturen, die im Zweifel autoritär-sozialpartnerschaftlichen Konformismus durchsetzten, statt Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung aufzugreifen und politisch zu verallgemeinern.
Werk und Denken von Oskar Negt zeigen: Kritische Theorie ist mehr als »Frankfurter Schule«. Wie Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas analysierte Negt herrschaftliche Unterdrückungs- und Entfremdungszusammenhänge, um dabei beständig auf deren widersprüchlichen Charakter hinzuweisen. Weit mehr als seine Lehrer beharrte Negt allerdings darauf, dass von den Widersprüchen ausgehend die alltägliche praktische Erfahrung auf ihren Möglichkeitssinn, ihre Potenz der Überschreitung hin befragt und untersucht werden müsse. Arbeiter:innen und Arbeit standen für ihn im Zentrum, aber gerade nicht als ausführendes Organ eines von Parteiführern oder vermeintlich radikalen Intellektuellen vorprogrammierten Klassenkampfes. Vielmehr insistierte Negt auf den gegen die Verhältnisse herzustellenden Zusammenhang von lebendiger Arbeit und menschlicher Würde, was wiederum nicht ohne den zweiten zentralen Zusammenhang – Arbeit und gesellschaftliche Verantwortung – zu denken sei. An die Stelle einer wie selbstverständlich über die Einzelnen herrschenden gesellschaftlichen Allgemeinheit, sei das neu zu schaffende gesellschaftliche Ganze aus dem Zutun der bislang subalternisierten Vielen, ihrer jeweils besonderen Wahrnehmung und Erfahrung demokratisch zu konstituieren. (Selbst-)Ermächtigung muss sich mit Negt durch das Individuum hindurch vollziehen, zugleich aber ist die Überschreitung des Bestehenden, der Aufbau emanzipatorischer Gesellschaftsformen nur als kollektiver Prozess denkbar. Zu diesem gehört also die Überwindung der bürgerlichen Zumutung, als vermeintlich private, konkurrenzielle Einzelne agieren zu müssen. Entsprechend vergaß Negt auch nicht, Beziehungsarbeit als die wesentliche Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens hervorzuheben. Auch »ökologische Kompetenz« zielte bei ihm nicht auf technokratischen Schutz der Um-Welt, sondern meinte eine gesellschaftlich fundierte »vernünftige Welteinstellung«: einen pfleglichen Umgang mit Menschen, Dingen und Natur. Um dahin zu gelangen, brauche es den »Möglichkeitssinn« und die »Utopiefähigkeit« im Hier und Heute als Ausgangspunkt.
Über all dies ist weiter nachzudenken.
Autorin: Stefanie Hürtgen