Zusammenhänge individueller und institutioneller Konfliktgeschichten dissozialer, nicht beschulbarer Jugendlicher

Prof. Dr. Ludwig von Friedeburg, Prof. Dr. Axel Honneth, Prof. Dr. Leuzinger-Bohleber, Dr. Thomas von Freyberg, Angelika Wolff, Dr. Sven Sauter, Dr. Rose Ahlheim, Dr. Frank Dammasch, Ulrike Jongbloed, Jochen Raue

In der Zeit vom 1.10.1999 bis zum 30.9.2005 wird am Institut für Sozialforschung ein interdisziplinäres Forschungsprojekt durchgeführt. Diese Studie wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell unterstützt und wird in enger Kooperation zwischen dem Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt und dem Institut für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Frankfurt am Main durchgeführt.

Das Forschungsprojekt untersucht die Zusammenhänge von individueller und institutioneller Konfliktgeschichten bei Jugendlichen, die aufgrund schwerwiegender Verhaltensprobleme in öffentlichen Schulen nicht mehr beschult werden können oder sollen.

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen zehn Einzelfallstudien, in denen die individuelle und die institutionenbezogene Konfliktgeschichte eines Jugendlichen mit Hilfe soziologischer und psychoanalytischer Forschungsmethoden analysiert wird.

Die psychoanalytische Fallperspektive fragt nach der Psychodynamik des einzelnen Jugendlichen und interessiert sich für die Konfliktgeschichte dieses Jugendlichen mit Schule und Jugendhilfe nur insofern, als sich in diesen Konflikten die Psychodynamik durchsetzt, modifiziert und entwickelt. Die soziologische Fallperspektive fragt nach den institutionellen und strukturellen Konfliktbedingungen von Schule und Jugendhilfe und interessiert sich für die Psychodynamik der einzelnen Jugendlichen nur insofern, als sie – einem Katalysator vergleichbar – die Widersprüche, Brüche und Defizite der Institutionen ans Licht zerrt.

Die interdisziplinäre Reflexion und Zusammenführung der beiden Untersuchungsperspektiven konzentriert sich auf die Fragen, wie sich individuelle und institutionelle Bedingungen der Entstehung und Entwicklung von sozialer Desintegration und Verwahrlosung verzahnen und möglicherweise verstärken; und ob es typische Mechanismen und Muster derartiger negativer Wechselwirkungen gibt.

Die zentrale Annahme des Projektes ist also, dass die inneren Konflikt- und Beziehungsmuster der nicht beschulbaren Jugendlichen von diesen im Kontakt mit Lehrern, Erziehern oder Sozialarbeitern unbewusst reinszeniert werden und dass die informellen und formalen Regelungen und Verhaltensweisen, mit denen die Institutionen beziehungsweise die Professionellen reagieren und ihre Angebote und Auflagen präsentieren, den Jugendlichen bei ihren Inszenierungen ungewollt entgegenkommen.

Die Analyse solcher Verstrickungen zwischen individueller und institutioneller Konfliktgeschichte und die Identifizierung typischer Muster solcher Beziehungen wird als notwendige Voraussetzung angesehen für weiterführende Überlegungen zur Kooperation in und zwischen den Institutionen, zur Organisations- und Personalentwicklung und zu Prävention und Evaluation in diesem besonders schwierigen und kostenintensiven Teilbereich von Schule und Jugendhilfe.

Dass sich auf vielfältige Art und Weise individuelle und institutionelle Konfliktgeschichte verzahnen und eskalierend ergänzen, bestätigen die bisher durchgeführten Fallstudien recht deutlich. Bei allen bisherigen Fällen zeigten sich in der psychoanalytischen Diagnose schwere und frühe Verletzungen und Traumatisierungen, die von den Eltern nicht aufgefangen und zusammen mit ihrem Kind aufgearbeitet werden konnten. Diese schweren seelischen Störungen und die unbewussten Formen des Umgangs und der Abwehr, die diese Kinder als Überlebensstrategien entwickelt haben, sind der Schlüssel zum Verständnis ihrer gewaltsamen Konfliktinszenierungen; weil (und solange) diese für die Kinder unbewusste Überlebensstrategien ohne Alternative sind, werden sie auch so machtvoll und immer wieder inszeniert. Dafür werden die Schwächen, Widersprüche, Defizite und Hilfeangebote ihrer Umwelt systematisch und manipulativ ausgenutzt. Dies ist das eine Zentrum der Konfliktgeschichte. Das andere Zentrum sind die strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen von Schule und Jugendhilfe, die mit dem Kind oder Jugendlichen zu tun haben. Diese Bedingungen lassen sich als das »Setting« der einzelnen Organisationen beschreiben, umfassen aber auch die Beziehungen der Organisation zum gesamten involvierten Hilfefeld. Die bisher analysierten Konfliktgeschichten zeigten gravierende Defizite sowohl hinsichtlich der Integration der Hilfe- und Bildungsprozesse als auch was die Integration der Hilfe- und Bildungssysteme anbelangt – Defizite, die diese nicht beschulbaren Jugendlichen »überforderten« und die von ihnen für ihre Konfliktinszenierungen »genutzt« wurden. Zwischen diesen beiden Zentren der Konfliktgeschichten agieren die Professionellen – als Vertreter ihrer Institution und als Anwalt der Kinder und Jugendlichen. Im Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen werden die Professionellen häufig von geradezu unerträglichen Affekten, Bildern und Ereignissen überfallen, weil sie von diesen Kindern und Jugendlichen in die Dramaturgie ihrer unbewussten Inszenierungen eingebaut werden. Der machtvolle »Mechanismus« von Übertragung und Gegenübertragung– der in seiner Bedeutung für die Psychodynamik im psychoanalytischen szenischen Interview begriffen werden kann – erklärt auf überraschend plausible Art systematische und kollektive Reaktionsmuster von Professionellen dem einzelnen Fall gegenüber. Diese Schnittstelle zwischen zwanghafter und zwanghaft sich wiederholender individueller Konfliktinszenierung der Kinder und Jugendlichen einerseits und den mehr oder weniger flexiblen institutionellen und strukturellen Settingbedingungen von Schule und Jugendhilfe andererseits ist beim gegenwärtigen Stand der Projektarbeit das wichtigste Feld gemeinsamer interdisziplinärer Analyse.

Veröffentlichungen

Freyberg, Thomas von und Angelika Wolff 2003: «Alles egal!» – Eine interdisziplinäre Fallstudie zur Konfliktgeschichte eines nicht beschulbaren Jugendlichen mit Schule und Jugendhilfe, in: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung 15.

Freyberg, Thomas von und Angelika Wolff 2004: Strukturelle Verantwortungslosigkeit. Eine interdisziplinäre Fallstudie zur Konfliktgeschichte eines nicht beschulbaren Jugendlichen mit Schule und Jugendhilfe, in: Unterricht für behinderte und nicht behinderte Schülerinnen und Schüler – Materialien zur sonderpädagogischen Förderung. Zeitschrift des Hessischen Landesinstituts für Pädagogik 10.

Wolff, Angelika 2004: Wenn Angst und Destruktivität in der Schule inszeniert werden, in: Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie 121. 1.

Freyberg, Thomas von und Angelika Wolff 2004: Individuelle und institutionelle Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher, in: Marianne Leuzinger-Bohleber, Heinrich Deserno und Stephan Hau (Hg.): Psychoanalyse als Profession und Wissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer, 235–249.

Freyberg, Thomas von 2004: Schulverweigerung als verborgenes Bündnis, in: Jochen Schirp, Cordula Schlichte und Heinz-Jürgen Stolz (Hg.): Annäherungen. Beiträge zur Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Butzbach: Afra Verlag.

Freyberg, Thomas von und Angelika Wolff 2004: Alles egal – Autonomie als Abwehr. Fallstudien zur Konfliktgeschichte nicht beschulbarer Jugendlicher, in: Bernd Ahrbeck und Bernhard Rauh (Hg.): Behinderung zwischen Autonomie und Angewiesensein.Stuttgart: Kohlhammer, 103–116.

Freyberg, Thomas von und Angelika Wolff 2004: Störer und Gestörte – Aus einem Forschungsprojekt über nicht beschulbare Jugendliche, in: Frank Dammasch und Dieter Katzenbach (Hg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Lehrern, Eltern und Schule. Frankfurt a. M.: Bandes und Apsel, 341–362.

Freyberg, Thomas von 2005: Schule und Jugendhilfe – Aspekte einer gestörten Beziehung, in: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, 87–108.

Freyberg, Thomas von und Angelika Wolff 2005: Aus dem Auge – aus dem Sinn! Eine interdisziplinäre Fallstudie zur Konfliktgeschichte einer Schulschwänzerin, in: Bernd Ahrbeck und Bernhard Rauh (Hg.): Der Fall des schwierigen Kindes. Therapie, Diagnostik und schulische Förderung verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher. Weinheim und Berlin: Beltz, 96–119.

Freyberg, Thomas von und Angelika Wolff 2005 (Hg.): Störer und Gestörte, Band I. Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.

Freyberg, Thomas von und Angelika Wolff (Hg.) 2006: Störer und Gestörte, Band II. Konfliktgeschichten als Lernprozess. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.

Antragsteller:in