Jule Govrin und Alexander Kern | Joseph Vogls »Kapital und Ressentiment«

Joseph Vogls Kapital und Ressentiment liefert eine zwar kurze, aber doch ambitionierte Theorie der Gegenwart. Im Zentrum der Theorie steht die Genese eines neuen Informationskapitalismus. Dieser sei im Begriff, die soziale und politische Sphäre mit seiner »Episteme der Finanzökonomie« (Vogl 2021: 34) zu kolonisieren und neue Formen von »Kontrollmacht« (ebd.: 86) sowie eine spezifisch finanzkapitalistische Form des Ressentiments hervorzubringen. Die Analysen von Entwicklungen an den Kapitalmärkten, neuer plattformkapitalistischer Geschäftsmodelle, autoritärer Regierungspraxen, spezifischer finanzialistischer Wahrheitsproduktionen und schließlich gegenwärtiger Spielarten des Ressentiments verbinden sich zu einer düsteren Gegenwartsdiagnose; einem – mit Max Horkheimer gesprochen – Existenzialurteil, demzufolge Herrschaft heute von »privat-öffentliche[n] Allianzen im Zeichen finanzökonomischer Governance […] am Leitfaden der Informationsindustrie« ausgeübt und »um die Produktion autoritärer Sozialstrukturen ergänzt« (ebd.: 182) wird.

Eine solch große Erzählung fordert die gegenwärtige kritische Theoriebildung heraus, beansprucht sie doch, Zusammenhänge zwischen den genannten Wirklichkeitsdimensionen herstellen zu können, die bislang nur wenig beleuchtet sind. Doch wie verhält sich Vogls deleuzianischer Zugang (vgl. ebd.: 86 ff.) zu anderen gegenwärtigen Ansätzen kritischer, marxistischer, feministischer und antirassistischer Theorie? Verdeckt oder erhellt Vogls Entwurf die Herrschaftspraxen der Gegenwart?

In diesem Working Paper diskutieren Jule Govrin und Alexander Kern die Konsequenzen, die Reichweite und die Limitierungen des Vogl'schen Vorschlags. Kern rekonstruiert Vogls Theorie angelehnt an Karl Marx und Theodor W. Adorno als eine an der Restitution eines Begriffs gesellschaftlicher Totalität arbeitende Theorie. Er bringt sie mit anderen Gegenwartsdiagnosen ins Gespräch und kommt zu dem Schluss, dass Vogl zwar ›Leitplanken und Stichworte‹ für die Theorie einer neuen Form von Handelskapital bereitstellt, jedoch nicht systematisch benennt, wie sich Vogls ›Totalität des neuen Handelskapitals‹ zur ›Totalität des Industriekapitals‹ verhält. Govrin liest Vogls Theorie kritisch, da dessen Sozialanalyse übersehe, dass es keine ungespaltene Gesellschaft gibt: kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse konstituieren sich stets entlang von Spaltungslinien. Ferner verdecke Vogls Ausgangspunkt eines einheitlichen ökonomischen Subjekts die Arbeitsteilungen, auf denen kapitalistisches Wirtschaften beruht. Ausgehend von der feministischen Ökonomiekritik entwickelt Govrin den Begriff ›differentieller Ausbeutung‹, der die ökonomische Überausbeutung rassifizierter und vergeschlechtlichter Subjekte fasst, die Vogls Herangehensweise unsichtbar mache.


Vogl, Joseph 2021: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart. München: C.H.Beck.