Schlaglicht 1: Memorandum
Am 22. August 1922 übersandte Arthur Weinberg, Direktor der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft an der Universität Frankfurt, deren Kuratorium einen Brief, der über den Plan einer Neugründung unterrichtete: »Herr Hermann Weil, Zeppelin-Allee 77, möchte für seinen Sohn Dr. Felix Weil, der im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät wissenschaftlich zu arbeiten gedenkt, ein Institut errichten.«1 Hermann Weil, ein jüdischer Mäzen, der als Mitinhaber einer Firma für Getreidegroßhandel in Argentinien zu Reichtum gelangt war, sich »1908 aus dem aktiven Geschäft zurückzog und nach Frankfurt zurückkehrte«2, war zugleich Förderer jener Naturforschenden Gesellschaft, und so fügte deren Direktor seinem Brief eine Denkschrift bei, die für die Errichtung des neuen Instituts wirbt.
Einer der beiden Verfasser dieser Schrift, die zum ersten Mal den Namen der zu schaffenden Institution nennt – Institut für Sozialforschung –, war Felix Weil, geboren 1898 in Buenos Aires, »Geburtshelfer der Kommunistischen Partei Argentiniens«3 und unterdessen mütterlicherseits mit einem großen Erbe ausgestattet. Der andere Autor war Kurt Albert Gerlach. Er wiederum hatte zu jener Zeit eine Professur als Nationalökonom an der Frankfurter Universität inne und war überzeugter Anhänger des Anarchosyndikalismus.
Mit dem Memorandum »kam es den beiden vornehmlich darauf an, die Aufgaben der Neugründung zu formulieren, ohne jedoch das wahre Ziel zu nennen, das sie damit verfolgten, nämlich ›dem Marxismus eine (…) akademische Heimstätte zu schaffen‹.« – »›Dieses Ziel‹«, so erinnerte sich Weil 1975, »›konnten wir damals nicht offen aussprechen‹.«4 Entsprechend wurde Übersetzungsarbeit geleistet: »Ins Äsopische umwandeln – so nannte Felix Weil die begriffliche Verschleierung marxistischer Semantik.«5
Die fabelhafte Geschichte, die die Denkschrift in teils geradezu expressionistischer Wortwahl erzählt, geht etwa wie folgt: Während mittlerweile die gegründeten naturwissenschaftlichen Institute eine ganz selbstverständliche Bedeutung erlangt hätten, sei die Tatsache »jenes ungeheuren Geflechtes von Wechselwirkungen«, nämlich »das verwickelte Netz der gesamten Wirtschafts- und Sozialzusammenhänge«, durch »fortwährende Fühlungnahme mit dem pulsenden Leben der Wirklichkeit« erst noch zu erforschen. Diese »Sozialforschung ist schon in Anbau genommen worden: es sei nur an Köln erinnert« – wo 1919 ein Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften gegründet worden war –, angeführt wurde aber auch die »ideale Lage Frankfurts am Main«, das »im Zentrum des vorwiegend in Betracht kommenden Zivilisationskreises« liege und »die in jeder Hinsicht weltoffenste Stadt« sei.
Als vornehmliche Aufgaben des Instituts wurden Sammlung und Ordnung von soziologischen Publikationen und sozialen Verlautbarungen vorgestellt, während »die Herausgabe der im Institut entstandenen und sonstiger wissenschaftlicher Arbeiten« erst für »die ferne Zukunft« ins Auge zu fassen sei. Diese Möglichkeit der Publikation eigener Forschungsergebnisse kam allerdings schneller als erwartet: Zwei Monate, nachdem das Kuratorium der Frankfurter Universität das Memorandum zur Kenntnis hatte nehmen können, am 19. Oktober 1922, starb Kurt Albert Gerlach überraschend an Diabetes, einer Krankheit, gegen die es noch kein Heilmittel gab. Als Gründungsdirektor des Instituts für Sozialforschung konnte Felix Weil den Austromarxisten Carl Grünberg gewinnen, der in Frankfurt eine Professur für wirtschaftliche Staatswissenschaften erlangte. Er brachte das Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung mit ans Institut, ein Publikationsorgan, das Grünberg 1911 gegründet und seitdem herausgegeben hatte und das nun als Institutszeitschrift fungierte. »Das Institut wurde zu einem Spiegelbild des Archivs, zu einem Institut für Forschungen über die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, über Wirtschaftsgeschichte und Geschichte und Kritik der politischen Ökonomie. Es schuf die Vorbedingungen für solche Arbeiten, förderte sie und führte sie auch selber durch.«
(Die Vorlage der Denkschrift findet sich im Archivzentrum an der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter der Sigle Na1, 656. Das Institut für Sozialforschung dankt dem Archivzentrum für die freundliche Überlassung des Scans.)
1Archivzentrum an der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Na1, 656.
2Jeanette Erazo Heufelder 2017: Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule. Berlin: Berenberg 2017, 24.
3Ebd.: 39.
4Ulrike Migdal 1981: Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Frankfurt am Main und New York: Campus, 38.
5Jeanette Erazo Heufelder 2017, 46.